Agilität: was ändert sich in der Beratung?
Abstract: In einer komplexen und schnelllebigen Unternehmensumwelt liefern „Agile Konzepte“, die mit den Dimensionen Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenzentriertheit und Haltung (Mindset) beschrieben werden, vielversprechende Bewältigungskonzepte. Agilität erscheint als rasanter Paradigmenwechsel, der Einfluss auf die Beratungspraxis von Organisationen nimmt. Bei der Untersuchung der verschiedenen „Ebenen der Agilität“, und zwar den agilen Prozessen (Scrum), dem „Mindset“ und entsprechenden Führungsanforderungen sowie einer agilen Organisation wird deutlich, dass sowohl systemtheoretische Erklärungsansätze als auch bestehende Beratungsansätze der „agilen Revolution“ gerecht werden.
„Wir RENNEN am Morgen FREUDIG zu unserer Arbeit und ENTFALTEN KOOPERATIV unser Potenzial, um unsere KUNDEN mit herausragenden innovativen Produkten und Services ZU BEGEISTERN.“
Torsten Scheller, Auf dem Weg zur agilen Organisation, 2017
Die Digitalisierung fast aller Geschäftsmodelle, Globalisierung und die Verknappung von Ressourcen als sogenannte „Megatrends“ erfordern von Unternehmen eine hohe Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Umwelten. Die Qualität dieser Herausforderungen wird vorzugsweise mit dem Akronym VUKA gefasst, volatil meint die sprunghafte Veränderung von Märkten, Unklarheit und Unsicherheit kennzeichnen die Schwierigkeit prognostischer Aussagen, Komplexität kennzeichnet die Heterogenität von Einflussfaktoren, Ambiguität beschreibt die widersprüchliche und damit vieldeutige Realität der Unternehmen.
Antworten auf diese komplexen und schnelllebigen Veränderungen liefern „Agile Konzepte“, die mit den Dimensionen Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenzentriertheit und Haltung (Mindset) beschrieben werden. Agilität gilt gegenwärtig als höchste Form der organisationalen Anpassungsfähigkeit, in dem Veränderungen frühzeitig antizipiert werden und das Unternehmen proaktiv auf veränderte Rahmenbedingungen auszurichten.
Praktisch bedeutet agil, starre Planungen wie im traditionellen Wasserfallmodell durch schlanke, überschaubare Planungs- und Umsetzungszyklen, die auf konkrete Ergebnisse zielen, zu ersetzen. Unterschiedliche Attribute wie kundenorientiert, flexibel, iterativ, selbstorganisiert, holistisch, entscheidungskompetent kennzeichnen einen Begriff, der in den (Management-) Publikationen sowie im professionellen Sprachgebrauch eher unscharf, wenn nicht schillernd bleibt. Ursprünglich aus der Softwareentwicklung kommend, als ein Art Handlungsorientierung zur Produktentwicklung gedacht, werden im „Agilen Manifest“ Prinzipien der agilen Entwicklung von Software beschrieben. Spezifische Methoden wie „scrum“ unterstützen diese Prozesse. Inzwischen geht es um die Transformation von „agilen Methoden“ zur „agilen Organisation“, um angemessen auf die sogenannten „Mega-Trends“ zu reagieren.
Wenn Agilität als „höchste Form der Anpassungsfähigkeit gilt“ hat das Auswirkungen auf jegliche Form von Veränderungsmanagement in Organisationen und damit auf die Frage, welchen Einfluss dieses Konzept auf aktuelle Beratungsansätze im Change-Management nimmt. Insbesondere für den systemtheoretisch-orientierten Berater, der seine Beobachtungen der Organisation auf eine systemtheoretisch begründete Meta-Theorie basiert, stellt sich die Frage, ob die bestehenden Theorieansätze, diesen Paradigmenwechsel ausreichend beschreiben bzw. verstehen, und welche Schlussfolgerungen für eine systemtheoretisch-orientierte Beratungspraxis zu ziehen sind. Der Begriff systemtheoretisch-orientierter Berater wird bewusst im Unterschied zu systemischer Berater genutzt, um den Hintergrund allen Beratens, nämlich die neuere Systemtheorie deutlich zu machen. Zentrale Prämissen sind: Die Differenz System-Umwelt und darauf beruhende Operationsweisen, die zu einer Abgrenzung der jeweiligen Systeme und Subsysteme führen. Die zentrale Operation dieser auf sich bezogenen Systeme ist Kommunikation. Die Beziehung zwischen diesen sich ständig selbst reproduzierenden Systemen sind strukturelle Kopplungen. Die Systemtheorie ermöglicht auf diese Weise Komplexität zu reduzieren. Eine entscheidende Bedingung für gelingende Beratungsprozesse.
Fritz Simon (2014) vergleicht dies mit der Beziehung zwischen Spieler und Spiel. Das Spiel (Kommunikationsregeln im sozialen System/Unternehmen) und der Spieler (Mitglied im System, Mitarbeiter) sind jeweils relevante Umwelten füreinander, die zueinander autonom sind und zum anderen sich gegenseitig beeinflussen können. „Denn die Nutzung der Systemtheorie mit ihren vom Alltagsdenken abweichenden Erklärungsmustern, fördert die Bildung innovativer Ideen, weil sie alte Probleme in neue Kontexte stellt.“ (Simon 2017, S.15). Die Anpassungsnotwendigkeiten im Verhältnis Umwelt – Unternehmen/Organisation sind in der Tat ein „altes“ Problem, während der ungeheure Zeitdruck, unter dem dies Veränderungen notwendig werden, einen neuen Kontext schafft. Damit ist Systemtheorie ein geeigneter Rahmen, um zu einer angemessenen Beobachtung agiler Verfahrensweisen und Organisationen zu gelangen.
Um sich der Ausgangs-Frage weiter anzunähern, soll zunächst die Unterscheidung von agilen Organisationen, agilen Prozessen oder agilen Führungskräften/Mitarbeitern und den hinterlegten Verhaltensweisen (agiler mindset) getroffen werden, um die verschiedenen Ebenen agilen Wirkens zu differenzieren.
Agile Prozesse
Kernstück des „agilen Modells“ sind die „agilen
Prozesse“, die aus Software- Entwicklungsmethoden (Extreme
Programming/XP), die Mitte der 90er Jahre
entwickelt wurden, abgeleitet sind. Die agile Software-Entwicklung war anfangs
vor allem eine Gegenbewegung zum wasserfallorientierten Projektmanagement. An
Stelle langer Planungs- und Konzeptionsphasen traten Prozesse, die als
wesentliche Merkmale Kundenzentrierung, Iterationen und Inkremente
auszeichneten. Iterationen (Prozessschleifen) ermöglichen bei jedem
Prozess-Schritt Feedback, so dass frühzeitig auslieferungsfertige
Zwischenergebnisse mit Geschäftswert und Marktzugang (Inkremente) entstehen.
Gleichzeitig ermöglichen die den Iterationen inhärenten Reviews und
Retrospektiven sowohl erheblich schnellere Reaktionen als auch ein optimiertes
Qualitätsmanagement, was sich auf den gesamten Wertschöpfungsprozess auswirkt. Eine der bekanntesten agilen Methoden ist „Scrum“, das
einfach strukturiert und mit klar definierten Rollen besetzt ist.
Im Rugby ist „Scrum“ eine Gruppe von Spielern, die eng
zusammenspielen, um die Kontrolle über den Ball zu erlangen - ähnlich sind die Scrum-Prinzipien angelegt, Der
Schwerpunkt der Methode liegt auf Zusammenarbeit, Selbstmanagement und
-organisation, Flexibilität und Anpassung. Im Scrum wird ausschließlich der
tatsächlich erfassbare (Prozess-)Fortschritt beobachtet und auf Prognosen, um
ein Projekt zu planen und zu terminieren, verzichtet. Die Zeitpläne
werden in kurze Abläufe, auch „Sprints“ genannt, aufgeteilt, und nach Abschluss
eines Sprints werden die abgeschlossenen Aufgaben und Aktivitäten im Rahmen von
Reviews beschrieben und bewertet. Das Scrum-Team kann auf diese Weise
kurzfristig notwendige Änderungen an den Projektzielen vornehmen. Dies hilft,
Risiken zu kontrollieren und ihre Berechenbarkeit zu optimieren.
Struktur
und Anlage des Scrum-Prozesses, insbesondere was die Überschaubarkeit vom Umsetzungszeiten
(„Sprints“) als den Einsatz reflexiver Schleifen angeht, sind eine Innovation
im Prozessmanagement und Teil neuer Beratungsansätze.
Zentrales Charakteristikum agiler Prozesse ist die Umverteilung von Verantwortung in die Teams, die auch die Entscheidungen treffen und mit einem hohen Maß an Selbstorganisation verbunden sind. Teams sind das Zentrum agilen Wirkens, unterstützt von verschiedenen Führungs-/Funktionsrollen: Der Product-Owner ist für die fachlichen Aufgaben und die für das Projekt notwendigen Ressourcen zuständig sowie den Kontakt zum Kunden. Der Scrum-Master ist dagegen für die Förderung der agilen Methoden und die Einhaltung der Scrum-Regeln zuständig. Er coacht den Product-Owner und das Team in den wesentlichen Scrum-Methoden und versucht die Organisationskultur des Unternehmens mit der Scrum-Arbeit im Team zu harmonisieren. Beide Rollen, die des "Master" und die des "Owner" sind nicht mit Macht ausgestattet und sind nicht Bestandteil einer Rangordnung, sondern orientieren sich an der Funktion und dem Wechsel. Beide Rollen nehmen Einfluss auf das Team über Kommunikation und Expertise.
Das selbstorganisierte Team bildet den Fokus agiler Konzepte. Das anspruchsvolle Zusammenwirken der Teammitglieder ist Gegenstand von Teamentwicklung spielt seit jeher eine Rolle in der klassischen OE bzw. im Konzept der „Lernenden Organisation“.
Wer bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückschaut, stößt auf den soziotechnischen Ansatz des Tavistock-Institutes in London. Die Einführung sogenannter teilautonomer Arbeitsgruppen bei Volvo und später auch bei Opel in Deutschland erinnert sehr an die Teambeschreibung im agilen Modell: „Eine Kleingruppe von 3-8 Mitarbeitern übernimmt eine komplexe Aufgabe, deren Bearbeitung von der Gruppe selbstständig (teilautonom) vorgenommen wird. Dabei sind auch klassische Führungsfunktionen wie Arbeitsvorbereitung, Arbeitsorganisation und Ergebniskontrolle an die Gruppe delegiert, sodass sie über Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen verfügt. Je nach den Sachverhalten, die der Arbeitsgruppe zur eigenverantwortlichen Bearbeitung übertragen werden, können verschiedene Grade der Selbststeuerung unterschieden werden. Die weitest reichende Verselbstständigung der Arbeitnehmer kann im Extremfall sogar auf die klassische Führungsfunktion verzichten, da möglichst alle Arbeiten von jedem Mitglied der Arbeitsgruppe beherrscht werden sollten, womit Hierarchien überflüssig werden können.“__[1] Die Beschreibung im Gabler Wirtschaftslexikon könnte direkt einer Beschreibung agiler Beispiele entnommen sein – mit der Ausnahme, dass die Beschreibung der teilautonomen Arbeitsgruppen exakter und konkreter formuliert ist. Sicherlich ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, diese Modelle wieder abgeschafft wurden, von Interesse.
Das „agile Mindset“
Hohe Verantwortungsübernahme, Selbstorganisation, hoher Grad an gegenseitiger Abstimmung etc. verlangt in der Philosophie agilen Arbeitens veränderte Verhaltens- und Denkweisen allen Beteiligten ab. Unter dem Begriff „agiles mindset“ werden Eckpunkte einer neuen Unternehmenskultur entwickelt: ein positives Menschenbild, Wertschätzung von Unterschieden, Potentialentfaltung, Mut und Feedback. Mindset beinhaltet eine veränderte Haltung, Mentalität, und damit verbundenen Wertewandel im Unternehmen. Dieser Wertewandel bedient einerseits die veränderten, persönlichen Anforderungen in der Umsetzung agiler Projekte, andererseits gehen die Unternehmen davon aus, mit solchen kulturellen Orientierungen neuen, potentiellen Mitarbeitern der „Generation Y oder X“ binden zu können. Häusling und Rutz (2017) schreiben: „Wenn das Menschenbild in einem Unternehmen geprägt ist durch den Willen zu kreativem und produktivem Arbeiten, durch Selbstorganisation, Leidenschaft und Respekt, sind Klarheit, offenes gegenseitiges Feedback, Mut zu schwierigen Diskussionen und eine generelle transparente Kommunikation auf Augenhöhe nicht fern.“ (Häusling, Rutz 2017, S. 115) Neben solch plakativen Darstellungen der agilen Kultur gibt es differenziertere Beschreibungen des „Mindset“, die auf die Motivationsforscherin Carol Dweck (2016) zurückgehen, die in ihren Arbeiten zwischen dem „Fixed Mindset“ als statischem Selbstbild und dem „Groth Mindset“ als dynamischen Selbstbild unterscheidet. Die Ausbildung eines „Growth Mindset“ gilt im agilen Kontext als Voraussetzung, sich schnell verändernden Situationen anzupassen. Agilität wirkt somit tief in die Unternehmenskulturen hinein.
Deren Veränderung wird als wesentliche Aufgabe für das Management gesehen. Diese neue Kultur des Führens ist eine des „Unterstützens und Anleitens, dienend, flach, lateral, flexibel: Die Führungskraft wandelt sich vom Fachexperten zum Coach.“2 Führung dient der Unterstützung der Selbstorganisation in den Teams, in der Schaffung einer geeigneten Arbeitsumgebung, denn auch das Scrum-Team bedarf gemeinsam getragener Regeln und Abläufe.
Für viele Unternehmen ist entscheidend wie die Transformation der klassischen Management-Rollen sich auf die Führungsrollen im Scrum verteilen: Scrum Master, Product Owner, Scrum Team und Manager (Greßer, Freisler 2017). Insbesondere der Manager als Bereitsteller, der verantwortlich für das Umfeld ist, stellt eine Schnittstelle zum „alten“ System dar. Letzte Funktion gilt als Herausforderung für das mittlere Management, das nicht unmittelbar in den Teams aufgeht und einen tiefgreifenden Rollenwandel vollziehen muss. Im agilen Kontext verändern sich sowohl Rolle als auch Profil der Führungskräfte: Führung wird zur Dienstleistung (Servant Leadership), in dem sie optimale Arbeitsbedingungen und Voraussetzungen ermöglicht. Häufig ist von „Empowerment“, also der Ermächtigung der Mitarbeiter zu eigenverantwortlichem Handeln die Rede (Empowered Leadership).
Viele Aspekte des Führungshandelns werden seit Jahren verhandelt, oft mit dem Begriff des Navigierens verbunden (Seliger 2012, Malik 2015). Seit Jahren ändern sich die Ansprüche an Führungsverhalten, von der „Leadership-Idee“ bis zum situativen Führen. Aus vielen Unternehmensbeispielen über die Umsetzung agiler Prinzipien lässt sich der Eindruck ableiten, dass von Veränderungen im Führungsverhalten vor allem die unterste und mittlere Ebene betroffen ist. Dies ist sicherlich auch ein Hinweis auf die „Reichweite“ der Entscheidungsmöglichkeiten in den Teams.
Für Beratung wird die Thematisierung von Führungsverhalten und –Potentialen sowohl die Entwicklung bezogen auf die veränderten Teams als auch auf den stärkeren Funktionsbezug von Führung von Bedeutung sein.
„Um nachhaltig und erfolgreich agil(er) zu werden, muss also das Wissen vermittelt und Verhaltensweisen geändert werden. Eine Kombination aus Schulungen und Coaching ist unabdingbar“, so die lapidare Feststellung auf der website des Bratungsunternehmens it- agile zum Beratungsbedarf agiler Organisationen.
Die agile Organisation
Wenn es um die Betrachtung des agilen Organisationsmodells und seine Implikationen geht, macht häufig die Metapher vom „Alten Wein in neuen Schläuchen“ die Runde. Stefan Kühl (2017) wird in einem Interview noch deutlicher: „Die agile Organisation ist kalter Kaffee“. Kühl hält „Agilität“ für eine weitere Management-Mode und sieht die Aufgabe der systemtheoretisch orientierten Beratung – quasi gegen den Strom, auf die Funktion der Hierachie und des Managements und die Bedeutung von System-Umwelt-Grenzen hinzuweisen. Damit verweist Kühl auf zwei zentrale Aspekte der System-Theorie, die im Kontext einer „agilen Organisation“, scheinbar eine veränderte Lesart erfordern.
Zum einen geht es um Organisation-Umwelt-Relationen: Die „agile Organisation“ verschiebt aus Gründen der Komplexitätsbewältigung und getrieben durch erhöhte Veränderungsgeschwindigkeiten das Verhältnis Kunde – Organisation. Der Einbezug der Kunden in (Produkt-)-Entwicklungsprozesse ist eine wichtige Antwort auf die Verkürzung von Produktzyklen bzw. die Anpassung von Produktentwicklungszeiten an die Kundenbedürfnisse. Offensichtlich verschiebt sich im agilen Unternehmen das Verhältnis einer eher „operativ geschlossenen“ Organisation, die mit Organisationsroutinen und komplizierten Strukturen auf die äußeren Anforderungen reagiert zugunsten einer „offenen“ Unternehmensform mit einer größeren Durchlässigkeit. Eine solche veränderte Form von Kopplungen macht eine Neujustierungen bzw. Ordnung von Erwartungen, nämlich denen der Kunden und denen des Systems/Unternehmen notwendig. Die sogenannten Kopplungsmodalitäten in Formen der losen oder festen Kopplung entscheiden über flexiblere oder starrere Strukturen. Insofern kann man die „agile“ Organisation als Modell sehr loser Kopplungen zwischen den Akteuren, also Kunde – Mitarbeiter, und eher fester Kopplungen, wenn es um die Aktionen in den Prozessabläufen geht, verstehen. Dirk Baecker (2017) schreibt, dass, was als radikale Kundenorientierung propagiert wird, tatsächlich eine Auftragsorientierung sei. „Eine radikale Kundenorientierung würde das System den Launen, Wünschen und nicht zuletzt Kosten- und Gewinnerwartungen der Umwelt aussetzen.“ (Baecker 2017, S. 11) Und der „Auftrag setzt sich dem System entgegen.“, und stellt damit wieder eine System-Umwelt-Relation her.
In der weiteren Transformation agiler Modelle wird die Funktion und Rolle „Dritter“, nämlich der Kunden, von entscheidender Bedeutung sein, wie dieses neu definierte Verhältnis die System-Umwelt-Relationen beeinflusst. Oder aber in einer „radikalen“ Sichtweise der Einbezug der Kunden als „organisationale Nicht-Mitglieder“ lediglich als Umwelt-Bedingung gesehen wird, der sich das System „unterwirft“, um den Systemerhalt zu garantieren.
Aus Sicht der Beratung standen schon immer kundennahe Unternehmensbereiche wie Vertrieb oder Marketing in einem Dilemma zu komplizierten internen Prozessen und Abläufen der Gesamtorganisation, die sich hinderlich auf „schnelle“ Produktentwicklungen oder die die Umsetzung von Kundenwünschen auswirken. Tatsächlich geht es nicht nur um die Erhöhung der Veränderungsgeschwindigkeiten, sondern um eine Vergrößerung der Wissensbestände in der Organisation, was schnell auf das Modell einer „lernenden Organisation“ verweist, die spätestens von Peter Senge (1990) beschriebenen Disziplinen der lernenden Organisation zum Standardwissen von Beratern gehören. Auch damals ging es darum, „schneller zu lernen als die Konkurrenz“. Die Disziplin des „System-Denkens“, die sich ähnlich wie „agile Prozesse“ mit Feedback-Prozessen und rekursiven Schleifen beschäftigt. Das Konzept des „Personal Mastery“ ist dem „agilen mindset“ sehr ähnlich, auch hier geht es darum, dass man seine „persönliche Vision kontinuierlich klärt und vertieft, dass man seine Energien bündelt, Geduld entwickelt und die Realität objektiv betrachtet“ (Senge 1997, S. 16). Team-Lernen kennzeichnet schließlich die besondere Bedeutung von gemeinsamen Lern- und Wissensprozessen in Teams, wie sie auch in agilen Teams zu finden sind.
Die hohe Notwendigkeit Veränderungsprozesse in den Umwelten zu erkennen und in Beziehung zur Organisationsstruktur zu setzen, finden sich ebenso in den Ansätzen zur Lernenden Organisation von Chris Agyris und Donald Schön (2002). Das von Agyris und Schön propagierte Modell des „Doppelschleifen-Lernens“ „kann die Arten des Wandels hin zu mehr Offenheit, Flexibilität, lokaler Autonomie und Untersuchungsorientierung einschließen …“(Agyris/Schön 2002, S.12). Die Übereinstimmung mit zentralen Merkmalen agilen Arbeitens ist verblüffend.
Auch Wimmer (2000) beschreibt unter dem Begriff der „Umweltempfindlichkeit“ das Verhältnis von organisationalem Irritiertwerden und organisationsinternen Möglichkeiten als Lernprozess der Organisation. Er verknüpft die Lernfähigkeit von Organisati0nen mit der Fähigkeit Wissen zu akkumulieren und ein entsprechendes Wissensmanagement zu etablieren.
Ein zweiter zentraler Aspekt der Organisation ist das Verhältnis von Hierachie und Entscheidung. In der agilen Organisation sind selbstorganisierte und selbstbestimmte Teams ein zentrales Element agilen Arbeitens. War das klassische Projektmanagement von einer Top-Down-Struktur gekennzeichnet und die Entscheidungen vor allem in die „Linie“, in eine Hierachie der Rangordnung integriert, werden im agilen Modell Entscheidungen an den Stellen und von denjenigen getroffen, die mit der Entscheidung die größte Wirkung und die schnellste Anpassung ermöglichen. Entgegen traditionellen Managementmethoden, die Hierachie in Organisationen mit Macht und Rangordnung verbinden und somit Unternehmen ermöglichen, unter Zeitdruck oder im Konfliktfall mit „schnellen Entscheidungen“ Unsicherheiten zu absorbieren. Durch die enorme Erhöhung des Anpassungsdrucks an turbulente Umwelten wird eine auf Rangordnung basierende Hierachie dysfunktional. Stattdessen verschieben sich an die Hierachie gebundenen „Entscheidungsprämissen“ in die Teams. Nach Baecker (2017) findet eine Verschiebung von „Rangordnung“ zur „Ordnungsrelation“ statt und damit einen Verlust klassischer Management-Rollen.
Schließlich wird es darum gehen, von Fall zu Fall zu bewerten, in welchen Fällen Hierarchien effizienter sind und in welchen selbstbestimmtes Handeln. Einen Unterschied machen sicherlich innovative Unternehmensbereiche und solche die mit Routineaufgaben betraut sind. Die Balance zwischen Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit wird zu einem zentralen Gradmesser für die Funktionsfähigkeit von Unternehmen werden. Die Anwendung agiler Prinzipien lässt ein erhöhtes Spannungsfeld zwischen Bereichen mit loser und solchen mit festen Kopplungen vermuten, zwischen Bereichen, die agil arbeiten und solchen, die „traditionell“ vorgehen, was ein Agilitäts-Stabilitäts-Paradox (Gergs, Lakeit, Linke 2018) begründet.
Abschließend: Wenn Agilität und Selbstorganisation lediglich eine Mode oder Hype sind und keine veränderte, effektivere Form der Anpassung von Unternehmen, würde es lediglich der „Unsicherheitsabsorption“ (Groth 2017) dienen und ganz und gar in das Konzept systemtheoretischer Betrachtung passen. Bezogen auf die Ausgangsfrage „Wie wirkt sich das Konzept der Agilität auf die systemische Beratungspraxis aus?“ geht es im Grunde um „Businesss as usual“. Viele Fragen wurden bereits in den zurückliegenden Jahrzehnten unter anderen Begrifflichkeiten bearbeitet. Veränderungen auf der methodischen Ebene ziehen sicherlich Prozessabläufe gemäß dem Scrum-Konzept nach sich. Bezogen auf die Frage systemtheoretischer Ansätze reichen die Möglichkeiten der Beschreibung aus.